Die Heidehexe - Leseprobe Gloria Frost Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen. Franz Grillparzer Die Heidehexe Isabella kniete am Ufer der Oker. Die Hände bluteten vom Waschen der Arbeitskluft des Ziehvaters, Bettziechen und Laken aus Leinen, Kleider und Schürzen der Hausfrau und ihrer elf Kinder. Berge davon hatte das Mädchen bereits auf den Steinen am Flussrand blitzsauber gerubbelt und übereinander getürmt. Die Mühsal neigte sich dem Ende zu. Nur wenige schmutzige Gewänder warteten noch im Gras auf sie. Schäumendes Wildwasser spritzte hoch, erfrischte das müde Gesicht. Schmerz brannte in wunden, rissigen Fingern, ließ Isabella leise Schreie ausstoßen, die zwar nicht das Blut stillten, aber Herz und Seele erleichterten. Von fern hörte sie den Abdecker Geroll brüllen: „Isabella, warum ist der Haferbrei für das Frühstück nicht gekocht?“ „Weil kein Hafer mehr da ist!“ „Dann besorg welchen.“ Hubert Geroll kam mit langen Schritten über die Wiese gelaufen. „Die Kinder haben Hunger. Übrigens war ich gestern bei deiner Mutter. Sie will dich unbedingt sehen, behauptet, dass es wichtig sei. Geh sie besuchen und bring von ihr Lebensmittel mit. Es wird Zeit, dass sie mehr Taler locker macht. Du frisst uns die Haare vom Kopf. Für die eigene Familie bleibt kaum was übrig. So läuft das nicht, Jungfer. Richte das der Geizbacke aus.“ Isabella blickte den Schinder verächtlich an. Wortlos legte sie die Wäsche in den Korb, trug ihn zu der windschiefen Hütte, in der die Ziehmutter mit den Kindern am Tisch saß und auf Essen wartete. „Hast dich zu lange an der Wäsche aufgehalten“, keifte Emma Geroll als Begrüßung. „Sie hängt ja nicht mal auf der Leine. Soll ich das vielleicht auch noch übernehmen? Ich ertrinke in Arbeit. Elf Kinder, der Haushalt und die zusätzliche Last mit dir, dem fremden Blut, das seit der Geburt bei uns rumlungert. Isabella, du bist zu nichts nutze. Hast wohl wieder geträumt? Von einem Ritter, der dich aus dem Elend befreit, was?“ „Hab ich nicht. Es war viel zu waschen. Schau meine Hände an. Völlig kaputt gescheuert.“ Das Mädchen streckte ihr die in Streifen herabhängenden Hautfetzen entgegen. Emma wandte sich an ihren Mann: „Das meine ich, wenn ich dir von der Zimperliese erzähle. Sie passt nicht zu uns. Alles an ihr ist zart und zerbrechlich. Jede Arbeit fällt ihr schwer. Arme Leute haben eine derbe Statur, müssen zupacken können, trotz Schwielen und Schrunden. Bei dieser Jungfer fällt die Haut einfach ab. Rohes Fleisch, nichts als rohes Fleisch. Das Mündel taugt zu gar nichts.“ „Es ist nicht ihre Schuld, Emma. Der Herrgott hat sie so geschaffen. Ihre Mutter leidet unter dem gleichen Übel. Ein unabdingbares Erbe“, nahm der Abdecker Isabella in Schutz. „Steh du ihr noch bei. Ihr und der Hexe. Männern den Kopf verdrehen. Darauf verstehen sich beide. Auf schwarze Künste. Und so was lebt unter meinem Dach.“ „Genug ist genug.“ Hubert Gerolls Gesicht wurde zornesrot. Mit der Faust schlug er auf den wackligen Tisch.  „Aus purer Menschenfreundlichkeit haben wir das Balg damals nicht aufgenommen. Was wäre aus uns geworden? Ohne die monatlichen Zuwendungen seiner Mutter? Eine sparsame Hausfrau hätte davon einen hübschen Batzen Geld zur Seite geschafft, sodass wir nicht dauernd am Hungertuch nagen müssten. Was weiß ich, wo du das Geld der Hebamme lässt. Die Kinder und ich haben nicht viel vom Unterhalt zu sehen bekommen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die gesamte Brut von mir ist. Treiben sich genügend lüsterne Böcke in der Abdeckerei rum, wenn ich mit dem Esel Knochen zu den Seifenkochern und Leimsiedern ausfahre.“ „Das nimmst du zurück, Alter. Auf der Stelle.“ Während die Eltern wie gewohnt stritten, hängten sich die Geschwister an Isabellas Rockzipfel und krähten mit vereinten Kräften: „Hunger. Hunger. Hunger …“ Isabella hielt sich die Ohren zu, lief nach draußen, um dem Streit zu entkommen und nach etwas Essbarem zu suchen. Die kleine Schar hinterher. Und sie hatten Glück. Auf dem Speicher fanden die Ausgehungerten hinter Holzscheiten, Forken, Beilen und anderem Tand einen halben Sack Mehl. Im Stall verkündeten fünf Hühner gackernd, dass sie Eier gelegt hatten und diese nun ausbrüten wollten, setzten sich stolz auf ihre Leibesfrüchte. Isabella raubte sie ihnen unter dem Bauch weg. Draußen erblickte sie die beiden Ziegen des Nachbarn Paul Gebhard, einem der Henkersknechte. Mit einem langen Strick an die Steinbuche gebunden, grasten sie friedlich vor sich hin. Bis zum Bersten gefüllte Euter forderten geradezu auf, gemolken zu werden.       Im Sauseschritt rannte Isabella in die Küche und kam mit zwei Eimern zurück. Leise schlich sie sich an die Tiere, die durch lautes Meckern ihren Unmut bekundeten. „Rasch, Kinder“, befahl das Mädchen. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Wie selbstverständlich hielten einige den aufgeregten Ziegen die Beine fest, damit sie nicht getreten wurden, andere packten deren Hörner, um nicht aufgespießt zu werden und pressten ihnen die Mäuler zusammen. Kein Laut war mehr zu hören. Jeder Handgriff schien schon etliche Male zum Einsatz gelangt, denn die Not im Hause des Abdeckers nahm kein Ende. Isabella kauerte sich nacheinander unter beide Geißen, melkte die Euter bis zum letzten Tropfen leer. Sie reichte Hanna, der Ältesten, die Eimer mit der schäumenden Milch, da der Henkersknecht nahte, der trotz aller Vorsichtsmaßnahmen aufmerksam geworden war. Hanna floh mit den Geschwistern ins Haus. „Hab ich dich, kleine Diebin.“ Paul Gebhard schnappte Isabella bei den purpurroten Haaren und schaute ihr in die Augen. Geheimnisvoll leuchteten sie im Licht der aufgehenden Sonne. Blau, wie die letzten Schimmer der enteilenden Nacht. Keck saß die Stupsnase im gebräunten Gesicht, und der Kirschenmund bat zerknirscht um Verzeihung. Sein Blick fiel auf Isabellas graues Leinenkleid, das über den prallen Brüsten spannte. Jede Bewegung des Mädchens versprach, den Stoff zu sprengen und die volle Pracht nackt zu präsentieren. Eine schmale Taille, wohlgeformte Hüften sowie elfenhafte Arme und Beine bildeten einen verheißungsvollen Kontrast dazu. Der Knecht bekam weiche Knie, liebte er die schöne Jungfrau doch, seitdem er denken konnte. Als Kinder hatten sie oft zusammen gespielt. Jetzt war er achtzehn und, genau wie sein Vater und bereits dessen Vater, ausgebildeter Henker. In ein paar Jahren würde er in Vaters Fußstapfen treten, selbst der Herr über Leben und Tod sein. Welche Maid gibt sich mit einem Burschen ab, der solch abscheulichem Beruf nachgeht, sinnierte er oft, durften Henkerskinder ohnehin nur untereinander heiraten. Seltene Ausnahmen waren Hochzeiten mit anderen aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, zu denen auch Töchter von Abdeckern gehörten. Sie galten ebenfalls als unrein, hausten wie Bader, Gaukler, Leineweber und Hebammen außerhalb der Stadtmauern. Musste er dennoch einmal das Dorf aufsuchen, war er verpflichtet, sich durch auffällige Kleidung als Henker kenntlich zu machen, damit ihm jeder aus dem Wege gehen konnte. Sein Aussehen konnte die Verachtung, die er von den Bewohnern des Dorfes zu spüren bekam, nicht wettmachen. Alles an ihm schien kindlich und unfertig. Pummelige Wangen glänzten rosig unter gritzegrauen Augen, deren schwere Lider kaum anzuheben waren. Die Knollennase passte nicht zum Mund, der einem lippenlosen Strich glich. Sein Körper unförmig, noch im Wachstum begriffen. Aber Kraft besaß er. Arme und Beine ähnelten wahren Muskelpaketen. Irgendwann würde er gar nicht mal schlecht aussehen. Im Moment half ihm das wenig. „Was kann ich tun, damit du mir nicht mehr böse bist?“, fragte Isabella, die sich ihrer Wirkung auf den Jüngling bewusst war. „Gib mir einen Kuss. Nur einen klitzekleinen.“   Isabella lachte so laut, dass sämtliche Nachbarn die Köpfe aus den Türen steckten. „Aber sonst geht’s dir gut, Paule, was? Ein hoher Preis für ein paar Stof Ziegenmilch“, prustete sie schließlich los. „Meinst du nicht, dass ein Kuss von mir mehr wert ist?“ „Doch“, sagte der Henker und senkte den Kopf. Das Mädchen drehte sich um, immer noch kichernd, und machte Anstalten, sich zu entfernen. Paul hielt sie im Nacken an den hüftlangen Locken fest, presste seinen Mund auf ihren. Isabella schrie entrüstet auf, klatschte ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, dass alle fünf Finger sich dort abzeichneten, und er sie vor Schreck losließ. Das Mädchen stob davon. „Das war’s mir wert“, rief Paul ihr nach. „Jetzt sind wir quitt.“ Hubert Geroll stürmte wutschnaubend aus der Tür. „Warte, Bursche, dir werd ich’s geben. Meine Ziehtochter unsittlich zu berühren. Missratener Hundesohn.“ Der Henkersknecht grinste breit und trollte sich. „Misch dich nicht ein“, schimpfte Huberts Weib und zog ihn am Hemdzipfel ins Haus zurück. „Wirst es dir wegen der Göre noch mit der gesamten Nachbarschaft verderben. Schlimm genug, dass wir mit solchem Gesindel vor den Toren der Stadt wohnen müssen, weil du keinem ehrenwerten Beruf nachgehst.“ „Hättest mich nicht zu freien brauchen, dann wäre mir wohler. Aber du konntest ja nicht schnell genug unter die Haube kommen. Nachgerannt bist du mir und hast mir ein Kind nach dem anderen angehängt.“ „Na, den Nachwuchs hast du doch gezeugt, während ich die schweren Geburten aushalten musste. Brünstiger Hirsch. Konntest nicht oft genug zu mir ins Bett kriechen.“ „Die Zeiten sind längst vorbei. Wenn ich deine ausgeleierte Figur lediglich angucke, vergeht mir die Lust.“ „Wozu du deinen Teil beigetragen hast. Wenn man elf Kinder zur Welt gebracht hat, sieht man nicht mehr aus wie das Gössel.“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Isabella, die aus Milch, Mehl, Eiern und einem Rest Wildhonig eine leckere Suppe gekocht hatte und den dampfenden Topf auf den Tisch stellte.     „Weib, so hast du nie ausgesehen. Isabella ist eine Augenweide, was man von dir leider nie behaupten konnte.“ „So, so. Eine Augenweide. Du Lüstling hast wohl selbst ein Auge auf diese Weide geworfen, was?“ „Die Alte spinnt“, knurrte der Abdecker, setzte sich ächzend an den Tisch und löffelte voll Behagen das nahrhafte Frühstück. Auch den Kindern schmeckte es, und nachdem Emmas Hunger gestillt war, besserte sich ihre Laune merklich. „Nun schlag hier nicht länger Wurzeln, Mädchen. Spute dich und lass deine Mutter nicht warten. Die kriegt es sonst fertig und dreht uns den Geldhahn zu. Wir sind aber auf ihre Unterstützung angewiesen. Ohne ein paar blanke Münzen brauchst du dich gar nicht erst wieder blicken lassen. Ist das klar?“ Isabella nickte, knickste artig und machte sich auf den Weg. „Komm pünktlich nach Hause“, rief ihr der Schinder nach. „Sonst wirst du die Peitsche spüren!“ „Ich weiß“, antwortete das Mädchen und freute sich, als es dem Gesichtskreis der Zieheltern entschwunden war. Sie hüpfte und sprang über die Wiesen wie ein Fohlen, das sich des Lebens und der kurzen Freiheit erfreut. Schweigend warteten die Bäume des Waldes auf ihr Erscheinen. Nur die Wintervögel stießen Begrüßungsschreie aus. Bald würden Amseln, Drosseln und Finken aus dem Süden zurückkehren und um die Wette zwitschern. Noch hielt Märzeskälte die Zügel eisern in Vorfrühlingshand. Mit den Füßen wirbelte Isabella die am Boden liegenden Blätter hoch, fing sie mit beiden Händen wieder auf, tollte umtriebig vorwärts. Zwischen Buchen entdeckte sie ein paar Rehe, die ängstlich das Dickicht suchten, und auf kahlen Ästen turnte ein Eichhörnchen herum.  Trotz des Glücksgefühls, die Mutter bald zu umarmen, lief sie nicht so unbeschwert wie sonst des Weges. Der Kuss des Henkers brannte wie Glut auf ihren Lippen. Hieß es nicht, dass der Jüngling, der eine Maid als Erster küsst, sie später zum Weib bekommt? Allein der Gedanke verursachte ihr Unbehagen. Die Zeit der Kindheit entglitt der Fünfzehnjährigen, würde bald lediglich Erinnerung sein. Pauls Bild tauchte vor ihren Augen auf. Sie schüttelte sich. Ich werde nie freien, beschloss sie trotzig, will Jungfrau bleiben. Nachdem sie diesen Vorsatz gefasst hatte, ging es ihr wesentlich besser. Sie sang und tanzte vor sich hin, verscheuchte Gedanken an eine Zukunft, die dunkel vor ihr lag.