Der Purpurschnitter Leseprobe
Gloria Frost
1
Weitab vor den Mauern der Stadt, umgeben von Sümpfen und Wäldern, lag der uralte Moorhof, von dem die Leute munkelten, dass es dort nicht geheuer sei. Sie glaubten,
Seelen verstorbener Räuber, die in früheren Jahrhunderten dort ihr Unwesen getrieben hatten, würden nachts ruhelos durch wild wucherndes Dickicht geistern und vom Wege
abgekommenen Wanderern den Garaus machen.
Gut, dass meine Familie solchem Mumpitz kein Gehör schenkte, denn seit fast zwei Jahrzehnten lebte ich mit Mann und Maus und unseren Zwillingen Mira und Maja in jenem
düsteren Gemäuer, das ich dereinst von meiner verstorbenen Mutter geerbt hatte.
"Bange machen gilt nicht", sagte ich zu Linda, die mich gerade wieder einmal das Fürchten lehren wollte.
"Hör mal, was hier in der Zeitung steht, Lilly", hatte sie nämlich geraunt und sich dabei nach allen Seiten umgesehen, als könnte im nächsten Augenblick irgendein Bösewicht
hinter dem Herd hervorspringen.
Wie jeden Freitagmorgen schaute meine Freundin auf einen Sprung bei mir vorbei, um die neuesten Klatschgeschichten aus der Nachbarschaft durchzuhecheln, bevor ich
zum Einkaufen ging und sie zum Joggen ums Moor.
"Gestern wurde bereits der siebte menschliche Fuß aus der Leine gefischt. Ist das nicht unheimlich?"
"Aber die Leine fließt doch auch durch Rosenzell."
"Natürlich fließt sie durch unsere Stadt. Schließlich sind wir Hannoveraner. Und es war direkt in der Bucht am Hohen Ufer, wo ein Sportangler den Fuß aus dem Fluss zog."
"Du phantasierst. Warum habe ich denn davon noch nichts gehört?"
"Weil die Polizei die Akte unter Verschluss hält. Top Secret. Aber ein findiger Reporter hat durch den Angler davon Wind bekommen und es brühwarm im Rosenzeller Tageblatt
vermarktet. Der ist jetzt ein gemachter Mann. Was glaubst du, wie die großen Boulevardblätter sich um den reißen."
"Das ist mir schnurzpiepe, Linda. Viel interessanter sind die Füße."
"Stimmt. Und was besonders merkwürdig ist: Immer ist es der rechte Fuß. Und jeder steckte in einem schwarzen Stiefel. Wie ihn Soldaten tragen. Oder Fremdenlegionäre.
Das muss doch was zu bedeuten haben. Ach, was weiß ich. Geh jetzt und mach deinen Wochenendeinkauf. Wenn du dich beeilst, bin ich bei deiner Rückkehr noch da", sagte
Linda und faltete die Seiten der Zeitung zusammen.
"Fein. Dann kannst du uns in der Zwischenzeit einen starken Kaffee kochen", schlug ich vor, "nach dieser Gruselgeschichte könnte ich eine Tasse vertragen. Sachen gibt's."
Es war Dezember und fror Stein und Bein. Ein Wunder, dass der Fluss nicht zugefroren ist, sonst wären die Füße wohl nie gefunden worden. Seltsam. Sehr seltsam. Als ob
Dämonen ihre Hände im Spiel hätten, überlegte ich, mechanisch die Schminkutensilien bereitstellend, um meine tägliche Kriegsbemalung vorzunehmen.
"Du willst doch nur zu Bruno Becker. In seinem Fleischerladen triffst du keinen Adonis. Also brauchst du dich nicht aufzudonnern", stichelte Linda.
Bei solchen Worten entsagte ich jeglicher Eitelkeit, bändigte die widerspenstigen, ginsterblonden Haare mit einem Knoten im Nacken zusammen, stülpte meine kratzige, rote
Strickmütze, die ich bereits seit Kindheitstagen liebte, über Kopf und Stirn, schlüpfte in den Anorak, den ich sonst zur Gartenarbeit trug, und marschierte schnurstracks los.
Zwischen Hackfleisch und Gewürzen trennte sich das Hier vom Jetzt. Ohne Vorwarnung tauchte er aus der Vergangenheit auf: Adrian. Und es war genau wie damals, als wir
gemeinsam die Schulbank gedrückt und ich ihm heimlich Liebesbriefe und Vergissmeinnicht in die Mappe gestopft hatte.
Meine Beine zitterten bedenklich, dass ich befürchtete, sie würden im nächsten Moment wegknicken.
Fast fühlte ich die blank gescheuerten Bodenfliesen der Metzgerei unter meiner Winterhaut. Bruno Beckers Laden begann sich zu drehen. Jene seit Adrians Fortgang vor sich
hin rostende Ziehharmonika in meinem Bauch klimperte wie ehedem, und die an stählernen Haken aufgehängten Eisbeine krümmten sich zur Blutpolka, verwandelten sich vor
meinen Augen in Menschenfüße. Lauter rechte Männerfüße mit schweren schwarzen Stiefeln.
Mittendrin Prinz Wunderschön schlechthin. Hätte ich bloß nicht auf Linda gehört und wenigstens eine getönte Tagescreme aufgelegt.
Er hat sich überhaupt nicht verändert, durchzuckte es mich, ein Kerl wie Samt und Seide.
O ja, Adrian war schon was fürs Herz. Groß und stark, mit schwarzem Wuschelhaar und Augen, so braun wie der Baum, in dessen Rinde ich als Schulmädchen ein Herz mit
unsrer beider Namen geritzt hatte. Jeder Zoll seines Körpers von Götterhand perfekt geschnitzt.
"Schau ihn nicht an, sonst bist du verloren", flüsterten unsichtbare Gespielinnen Aphrodites mir leise ins Ohr, "sie gab ihm zu viel Schönheit mit, ebenfalls die
Verführungskunst. Und nicht zuletzt legte sie ihm ein beachtliches Stück ihres Spottes in die Wiege."
Ich nickte wissend, schluckte und schaute zur Seite, denn ich wollte auf keinen Fall von ihm erkannt werden.
Schon gar nicht in dieser Aufmachung.
Da stand er nach all den Jahren in voller Lebensgröße neben mir, der Schwarm meiner Teenagerträume. Schlaflose Nächte waren mir beschieden gewesen, in denen ich aus
Liebeskummer mein Kopfkissen und zahllose Taschentücher vollgeschluchzt hatte. Warum? Weil er in mir lediglich den guten Kumpel gesehen, hingegen der überkandidelten
Victoria, die vor lauter Selbstherrlichkeit nicht wusste, wie sie sich gebärden sollte, schmachtende Blicke zugeworfen hatte, sobald sie in seinem Gesichtskreis aufgetaucht
war.
Mein Herz hämmerte bis zum Hals. Nervös fingerte ich am Einkaufskorb herum.
Adrians Blick brannte auf meiner Haut. Scheu wagte ich es, ein Blinzeln zu riskieren und konnte deutlich ein Dutzend Mühlräder in seinem Hirn klappern hören, die
versuchten, mich wie ein verlorenes Maiskorn irgendwo aus dem Erinnerungsballen seines Gedächtnisses hervorzumahlen. Das Aufleuchten seiner Pupillen gab mir kund,
dass es bei ihm Klick gemacht hatte.
"Lilly!", rief er denn auch wie aus der Pistole geschossen, "Menschenskind. Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt - gut siehst du aus, mein Schatz!"
Er sagte tatsächlich "Mein Schatz", nahm mich in die Arme, trat einen Schritt zurück, musterte mich von oben bis unten und küsste mich auf Wangen und Mund.
Mir schoss das Blut in den Kopf. Ich merkte, wie mein Gesicht mohnrot wurde und wäre am liebsten im Boden versunken. "Genau wie früher", lachte Adrian.
Der Laden war brechend voll, was ihn nicht im Geringsten zu stören schien. Doch die Anwesenden guckten sich vielsagend an, Frau Berger schnaufte unwirsch, Herr Grundig
von nebenan tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und die ältliche Verkäuferin hinter dem Tresen, zischte: "Unmöglich, Frau Leberecht, also wirklich. Eine verheiratete
Frau! Nee, nee, wenn das Ihr Mann wüsste."
Ich wollte sie mit Verachtung strafen, konnte dann aber nicht umhin, mit spitzer Zunge zu kontern: "Tja, Frau Geipel, den Seinen gibt's der Herr im Schlaf. Nur kein Neid."
Gern wäre ich innerlich so cool gewesen, wie ich mich nach außen gab. Doch meine Gefühle fuhren Achterbahn.
Vergeblich versuchte ich gegen diese erneut aufkeimende Liebe meines Lebens anzukämpfen. Jahrelang war sie in den hintersten Winkel des Herzens verbannt worden und
längst vergessen geglaubt. Trugschluss. Mit enormer Wucht befreite sie sich aus ihrer fest verbarrikadierten Kammer und blähte sich in Windeseile auf wie ein luftiges
Sommerkleid, das der Abendwind durchrauscht.
Reiß dich zusammen, Lilly, befahl ich mir selbst, du bist keine sechzehn mehr.
"Hallo Adrian", stotterte ich schließlich nicht gerade einfallsreich, während in meinem Kopf totale Leere angesagt war, "wo kommst du so plötzlich her?"
"Von draußen, vom Walde, da komm ich her", deklamierte Adrian verschmitzt, passend zur Weihnachtszeit.
"Lass gut sein, Adrian. Sag mal selbst, findest du es nicht ein bisschen seltsam, fast zwanzig Jahre sang- und klanglos von der Bildfläche zu verschwinden und dann wie
Phönix aus der Asche aufzutauchen? Nun sag schon, wo hast du die ganze Zeit gesteckt?"
"Ehrlich, Lilly, ich komme direkt aus dem Wald ... dem Sibirischen Wald sogar."
"Was hat dich denn dahin verschlagen?"
Adrians Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. "Top Secret", antwortete er und war nicht bereit, näher darauf einzugehen.
Top Secret? Das hatte ich doch heute schon einmal vernommen. Verstört starrte ich die am Haken baumelnden Eisbeine an. Irgendwas stimmte hier nicht.
"Und jetzt?", fragte ich, um das Gespräch nicht versiegen zu lassen.
"Jetzt bleibe ich hier."
"Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen", drängte ich.
"Damit du endlich Ruhe gibst, kleiner Quälgeist: Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden und habe nunmehr alle Zelte in Russland abgebrochen. Muss erst mal wieder
langsam zu mir selbst zurückfinden. Eine Trennung nach über fünf Jahren Ehe nimmt einen mehr mit, als du dir vorstellen kannst, verstehst du?", entgegnete er.
Täuschte ich mich oder klang da ein leichter Anflug von Gereiztheit in seiner Stimme mit?
"Ich wusste ja nicht einmal etwas von deiner Hochzeit, geschweige denn, von einer Scheidung", lenkte ich ein.
Unser unverhofftes Wiedersehen wollte ich auf keinen Fall mit einem Disput beginnen lassen, wusste ich doch aus schmerzlicher Erfahrung, wie schnell Adrian etwas in den
falschen Hals bekam und die Biege machte.
Innerlich ärgerte ich mich wegen meiner Neugier und des vorwurfsvollen Tonfalls, mit dem ich ihn begrüßt hatte. Nicht noch mehr Falsches sagen und ihn gleich wieder
vergraulen, dachte ich und himmelte ihn lieber wortlos an.
Mitten in das verlegene Schweigen hinein, erscholl gleich einem Donnerhall Bruno Beckers Stimme aus dem Hintergrund: "Hol mich der Teufel! Wenn das nicht Rosenzells
verlorener Sohn Adrian Michelmann ist."
Wie aus der Erde gestampft, stand er in seiner blau-weiß gestreiften Metzgerkluft zwischen uns, um den Schwabbelbauch eine engelsweiße Schürze geschlungen, auf der nur
ein paar frische Blutspritzer von seinem tödlichen Handwerk Zeugnis gaben.
"Wir sind gerade beim Schlachten", entschuldigte er sich, auf die jungfräulichen Flecken deutend und hieb Adrian mit seiner mächtigen Pranke auf die Schulter.
Ein Kerl wie ein Saurier, fast zwei Meter groß und mindestens drei Zentner Lebendgewicht, taxierte ich den Meister, jedes Mal aufs Neue von seiner imposanten Erscheinung
auf bizarre Weise fasziniert.
"Na, Lilly, was ist?", fragte er, meinen abschätzenden Blick gewahrend.
"Nichts, nichts", beeilte ich mich zu versichern und schlug betont schwungvoll in die dargebotene Rechte ein.
Dass ich von Kindheit an stets einen großen Bogen machte, wenn ich den Schlachter rechtzeitig erspähte, wusste er, ertrug es jedoch mit stoischer Gelassenheit. Lediglich die
flammende Röte, die sein von Dornwarzen gespicktes Gesicht überflutete, strafte den gespielten Gleichmut Lüge.
Ich zwang mich, ihm so lange in die wasserblauen, rastlos umherirrenden Triefäuglein zu schauen, bis er sie verwirrt niederschlug.
Nein, Bruno konnte, schon allein vom Aussehen her, bei mir keinen Blumentopf gewinnen.
Kurzgeschorene, rostrote Haare hoben sich wie Schweineborsten von dem breitkantigen Schädel ab. Rohe, gewaltbereite Züge wurden von talgig glänzender Haut umspannt.
Violette Äderchen durchzogen die Oberfläche der wulstigen Rüsselnase. Und im Kontrast dazu grinste mich ein dünnlippiger Mund schief an. Bräunliche Zahnstummel lugten
verschämt dazwischen hervor.
Auf der Stirn perlten dicke Schweißtropfen, die er umständlich mit dem aufgekrempelten Ärmel seines Fleischerhemdes abwischte. Angewidert befreite ich meine Hand aus
der Umklammerung.
"Immer langsam mit den jungen Pferden, Lilly. Warum so eilig?", erkundigte sich Bruno lauernd.
"Tut mir leid, ich bin spät dran. Hagen kommt heute eher aus der Kanzlei und will sein Essen auf dem Tisch stehen haben. Gib mir einfach fünf Bratwürste und ein Kilo Mett.
Dann bist du mich los." Ich legte einen Zwanziger auf den Tresen.
"Oho, der Herr Gemahl legt Wert auf Pünktlichkeit. Keine Zeit gehabt, dich wie sonst üblich aufzubrezeln, was?
Ausgerechnet heute, wo dein Herzbube hier überraschend auftaucht, siehst du aus wie Buttermilch und Spucke. Peinlich, peinlich, Lilly", spottete Bruno und in seinen Augen
tanzten tausend kleine Teufelchen, als er mir das Wechselgeld gab.